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Warum Unternehmen therapeutisches Coaching brauchen

Die entwicklungspsychologische Theorie hinter meiner Praxis

Warum ich mich als „Therapeutischer Coach“ bezeichne und warum ich davon überzeugt bin, dass es in Unternehmen Bedarf für therapeutisches Coaching gibt.

 

Zum tieferen Verständnis meiner Arbeit

Sowohl in diesem als auch im letzten Blog-Artikel bin ich auf die psychischen Ausprägungen der sogenannten „frühen = ersten Position“ und „späten = zweiten Position“ eingegangen. Diesen Fachjargon möchte ich hier noch erklärend aufschlüsseln. Der Zusammenhang ist wichtig, wenn wir uns auf die Suche nach der entwicklungspsychologischen Ursache von fehlenden Ressourcen machen. Und zwar in Bezug auf die Unterstützung, die sie benötigen, um (er)wachsen, das heißt sich entwickeln zu können. Generell im Leben, aber natürlich hier im Speziellen, im Führungskontext.

Die menschliche Psyche durchläuft im Alter zwischen 0 und 19 Jahren die acht Entwicklungsstufen, die ich bereits in Führungs-Häppchen 3 umrissen habe. Der Verlauf erfolgt mit mehr oder weniger Störungen, die hier unweigerlich auftreten können. Keiner von uns ist frei von solchen Störungen, allerdings können sie stärker oder schwächer ausfallen. Und damit auch eine stärkere oder schwächere (hinderliche) Auswirkung auf unseren Alltag als Erwachsener haben. In vielen Kontexten wird diesbezüglich von einem Trauma gesprochen, was wissenschaftlich gesehen absolut korrekt ist. Jedoch zeigt sich aktuell zum einen ein inflationärer Gebrauch dieses Wortes, gerade auch in sozialen Medien. Man könnte fast schon von einem Hype sprechen. Es ist auf einmal „schick“, traumatisiert zu sein. Von dieser Betrachtung möchte ich mich distanzieren. Und zum anderen erlebe ich bei Menschen, die bisher wenig Kontakt zur therapeutischen Szene hatten, oft eine Reaktion im Sinne von „Oh je, ein Trauma!  Das ist ja schrecklich!“ und dann geht der sprichwörtliche Rollladen runter, was eine weitere Arbeit damit erschwert. Gerade im Unternehmensumfeld breiten sich Berührungsängste aus, wenn das Wort Trauma in den Mund genommen wird. So habe ich für mich entschieden, in meinem Wortgebrauch „Entwicklungsstörung“ oder einfach nur „Störung“ zu etablieren, welches in meinen Augen mehr die Möglichkeit einer Herausentwicklung im Erwachsenenalter impliziert. Wenn der Radiosender stört, kann man auf eine andere Frequenz tunen oder prüfen, ob man in einem Funkloch mit schlechtem Empfang unterwegs ist etc. Eine Störung beschreibt das Nicht-Funktionieren einer grundsätzlich gesunden/intakten Einheit, die wieder hergestellt werden kann. Mit dieser Denkweise können sich nach meiner Erfahrung mehr Menschen anfreunden, was u.a. auch dazu führt, dass mehr Hoffnung und Glaube daran entstehen, etwas in sich in Ordnung bringen zu können z. B. mithilfe eines therapeutischen Coachings, wie ich es bezeichne.

Therapeutisches Coaching – was ist das?

Nun bin ich an dem Punkt, wo es mir wichtig ist, zu erläutern, was ich unter therapeutischem Coaching verstehe und warum ich gerade auch in Unternehmen einen Bedarf dafür sehe.

Dafür werfen wir gemeinsam zum einen einen Blick auf Coaching und zum anderen auf Therapie und darauf, was diese zwei Herangehensweisen unterscheidet. Danach möchte ich beleuchten, was an einer Kombination aus beidem, wie ich es praktiziere, so wertvoll ist und warum es die Erfolgschancen bzgl. der Zielerreichung in der Begleitung von Menschen steigert.

 

Coaching

Im „Lexikon der Psychologie“[1] kann man nachlesen, dass Coaching ein Sammelbegriff für unterschiedliche Maßnahmen und (Beratungs-)Methoden darstellt, die Menschen zur Unterstützung oder auch Nachhilfe bei der Lösungssuche in Bezug auf ihre Alltagsprobleme in Anspruch nehmen. Dabei sollen ihre Potenziale optimiert und eine reflektierende Haltung gefördert werden, primär für den beruflichen Kontext. Ich selbst habe in meinen unterschiedlichen Coaching-Ausbildungen gelernt, dass Coaching nur für psychisch gesunde Menschen geeignet ist und man Menschen, bei denen man „psychotherapeutischen“ Bedarf erkennt, zu einem eben solchen schicken bzw. sie zumindest darauf hinweisen soll. Das Coaching war somit beendet. Das hat mich damals schon unzufrieden gemacht. Zumal ich seit meinem (vernunftmäßigen) BWL-Studium Psychologie-Zeitschriften und Bücher verschlinge, weil sich dort meine eigentliche Leidenschaft Bahn bricht.

Meine kritische Frage ist zum einen: wo verläuft die Grenze, ab der eine Störung, wie es so schön heißt „pathologisch“ also krankhaft wird und einen therapeutischen Eingriff erfordert (sofern der Klient offen dafür ist)? Und zum anderen: Was spricht dagegen, therapeutische Maßnahmen in ein Coaching einfließen zu lassen und es so qualitativ upzudaten auf ein weit höheres und gesundmachendes Level? Sofern der Coach dazu in der Lage ist. Diese Gedanken und auch meine eigene Grenzerfahrung mit Coaching (näheres in meinem Buch) beeinflussten mich in der Entscheidung, meine Coaching-Fähigkeiten um eine vierjährigen körperpsychotherapeutische Ausbildung zu ergänzen.

 

Psychotherapie

Psychotherapie bedeutet übersetzt „Behandlung der menschlichen Seele“. Dabei wird das Ziel verfolgt Leiden, zu heilen oder zu lindern, in Lebenskrisen zu unterstützen oder belastende Verhaltensweisen und Einstellungen zu verändern. Grundlage dafür ist ein tiefgehendes Wissen über die Entwicklung der menschlichen Psyche! In Kombination mit therapeutischen Werkzeugen und Erfahrung in deren Anwendung. Was meine therapeutische Arbeit betrifft, setzt diese sich aus Prozessarbeit (nach Arnold Mindell), Somatic Experiencing (nach Peter A. Livine) und Bodynamic (nach Lisbeth Marcher) zusammen. Bei allen dreien handelt es sich um körperorientierte Arbeit, die genutzt wird, um psychische Heilungsprozesse in Gang zu setzen.  Hierzu werde ich mich nochmal ausführlich in einem separaten Blog-Artikel auslassen.

In meinem Buch erzähle ich die Geschichte eines Geschäftsführers, der bei mir im Coaching äußerte, dass er lernen will, anderen Menschen mehr zu vertrauen und auch mehr zuzutrauen (Vertrauen ist ein Thema der „frühen Existenzstruktur – siehe Führungshäppchen 4). In der Firma hatte er Schwierigkeiten, geschäftliche Dinge zu delegieren und seine Mitarbeiter einfach „mal machen zu lassen“. Deshalb „blieb viel zu viel an ihm hängen“, wie er sagte, und er arbeitete teilweise bis spät in die Nacht, um sein enormes Arbeitspensum zu bewältigen. Er wünschte sich mehr Zeit für sich und seine Freizeit und auch mehr Gelassenheit im Job. Ich zog damals in den Sitzungen alle Coaching-Register. Nach über einem Jahr gab er mir die Rückmeldung, dass ihm im Coaching „immer alles ganz klar ist und logisch erscheint“, doch dass, sobald er die Schwelle der Firma übertrete, alles im Nebel verschwimme und er keinen Zugriff mehr darauf habe, was er anders machen könnte.

Anhand dieser Geschichte könnte man jetzt an meiner Arbeit als Coach zweifeln, und ich gebe zu, das habe ich anfangs in schwachen Stunden oft selbst getan. Oder man könnte sagen: „Er hat es offensichtlich nicht richtig gewollt!“ – also ein Mangel an Willenskraft aufseiten des Klienten. Auf der anderen Seite gibt es noch eine andere Komponente, die ich mit all meiner Erfahrung inzwischen als entscheidend wahrnehme: die üblichen und oberflächlichen Coaching-Methoden an sich.

Von seiner Kindheit erzählte mein Klient mir irgendwann, dass er von klein auf eine schwer kranke Mutter hatte, die alleinerziehend war, und er sehr früh erwachsen werden musste. Er war eher ein Störfaktor als ein Wunschkind. Wenn er nicht die Verantwortung übernahm, übernahm sie keiner. Er hatte eine unheimliche Angst, die Kontrolle zu verlieren. Dies machte sich als Anspannung in seinem ganzen Körper bemerkbar. Nach einiger Zeit konnte ich auf meine KörperResilienz-Herangehensweise switchen, ähnlich wie ich sie in den zwei vorangehenden Blog-Artikeln beschrieben habe. Sein Kontrollmechanismus begann sich langsam aufzulösen. Auch seine Mitarbeiter erzählten mir, dass er ihnen auf einmal mehr Freiheiten gebe und viel „lockerer“ (im wahrsten Sinne des Wortes) geworden sei.

Wenn wir ein großes, schweres Bild aufhängen möchten, dann wissen wir, dass wir hierfür am besten keine Reißzwecken verwenden, weil sie das Bild nicht tragen können und es binnen Sekunden herunterfallen würde. Wir benötigen einen festen Nagel oder besser noch einen stabilen Dübel mit einer Schraube. Meine anfänglichen Coaching-Versuche, die hauptsächlich auf der mentalen Ebene stattfanden, würde ich heute als Arbeit mit Reißzwecken beschreiben. Sie waren oft nicht tief greifend genug, um langfristig andauernde Erfolge zu sichern. Die meisten Klienten gingen zwar happy aus dem Coaching raus und waren eine Zeit lang frohen Mutes in der Umsetzung ihres Ziels. Einige schafften es, einige aber auch nicht. Bei denen, die es nicht schafften, waren die alten entwicklungspsychologischen Prägungen im autonomen Nervensystem (=Stammhirnebene) so stark, dass ein mentales Management über den Kopf nicht ausreichte, um dies in den Griff zu bekommen. Das Bild, das ich mit ihnen an den Reißzwecken aufhängen wollte, hatte eine zu große Last (das heißt, eine zu tiefe Prägung im Körper). Der Geschäftsführer war kein Mensch mit psychischen Auffälligkeiten, sondern ein Mensch, der wie viele andere ein „ganz normales Leben“ mit „ganz normalen Problemen“ führt, und dennoch kann sich bei jedem vermeintlich lapidaren Alltagsproblem die entwicklungspsychologische Arbeit mit dem Körper als der Schlüssel zur Veränderung herausstellen und im Arbeitsalltag zu mehr Souveränität führen.

 

Ich bin der Meinung, Business-Coaching greift in vielen Fällen nicht tief genug

und stößt deshalb immer wieder an Veränderungs-Grenzen.

 

Coaching-Angebote gibt es heute wie Sand am Meer. Hinz und Kunz darf sich inzwischen Coach nennen. Der Begriff ist rechtlich nicht geschützt, wodurch alle möglichen Coaching-Angebote aktuell wie Unkraut aus der Erde sprießen. Und dabei nehme ich mich selbst in meinen Anfängen nicht aus. Ich saß in meiner ersten Coaching-Ausbildung, und die Dozenten erläuterten die vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten dieser (18 Tage dauernden) „Ausbildung“. Dabei hoben sie hervor, dass eine ehemalige Teilnehmerin nach der Basis-Ausbildung, dies als (einzige) Grundlage für ihre Coachingpraxis genutzt habe und angabegemäß „sehr erfolgreich“ damit sei. Hier wurde ein einseitiges und in meinen Augen irreführendes Bild gezeichnet, welches ich heute als äußerst kritisch und kurzsichtig beurteile.

Für mich ist es entscheidend mentale Coaching-Methoden mit körperorientierten therapeutischen Methoden zu kombinieren. Dies ist aus meiner Erfahrung heraus am erfolgreichsten und wirksamsten, wenn es um die Nachhaltigkeit von persönlicher Veränderung und Selbstführung, also Resilienz, geht.

 

Kein Selbstoptimierungs-Wahn für ein Publikum!

Auch ist mir wichtig, dass ich mich mit meiner Arbeit nicht einreihen will in den Selbstoptimierungs-Wahn und auch Personality-Hype, der aktuell in vielen Zusammenhängen zu beobachten ist. Und bei dem ich mich oft frage: Tust du das für dich oder um dich auf einer Bühne vor einem Publikum darzustellen? Für deine Follower? Für Likes auf Insta oder LinkedIn? Ich möchte explizit nicht, dass meine Klienten sich einem äußeren Diktat unterziehen, das ihnen einbläut, noch schneller, höher und weiter zu springen! Ich möchte, dass sie ihren eigenen Maßstab finden und sich selbst dabei so nahekommen, dass sie wieder anfangen sich zu spüren und was ihnen wichtig ist.

 

Zusammengefasst:

 

Aus diesen Gründen erachte ich es als NOTWENDIG, auch im Unternehmenskontext therapeutisches Coaching zu etablieren.

 

Und:

 

Führungskräfte und Mitarbeiter profitieren von einem therapeutischen Vorgehen in Coachings!

 

 

Wie psychische Ressourcen entstehen

Nach diesem Einschub nun zurück zur ersten und zweiten Position, für deren Entstehen auf jeder Stufe und in jedem Alter die gleiche Systematik gilt. Pro Entwicklungsstufe werden individuelle Zeiträume durchlaufen, die man in die frühe und späte Phase einteilt.

 

  1. Frühe Phase: Fähigkeit/Ressource beginnt zu existieren.

In der frühen Phase findet die grundsätzliche Entwicklung der psychischen Fähigkeit/Ressource statt.

Beispielhafte Aussagen eines Erwachsenen, an denen man erkennt, dass er in seiner Kindheit eine gesunde Entwicklung in der frühen Phase durchlaufen hat:

  • Ich kann meinen Körper und meine Emotionen spüren. Oder anders gesagt: ich bin in gutem Kontakt zu mir selbst. Ich vertraue in meine Existenz. (0 – 3 Monate)
  • Ich kann meine Bedürfnisse spüren. (1 – 18 Monate)
  • Ich kann meine Impulse wahrnehmen. (8 – 30 Monate)
  • Ich weiß, was ich will. (2 – 4 Jahre)
  • Ich (er)kenne mein Geschlecht. (3 – 6 Jahre) #Triggerwarnung: zu wissen, ob man Männlein oder Weiblein ist, ist eine psychische Fähigkeit, die sich im Alter zwischen 3 und 6 Jahren ausbildet. Hierzu wird es einen separaten Blog-Artikel geben.
  • Ich weiß, welche Meinung ich zu einem Thema habe. (5 – 9 Jahre)
  • Ich kann und will etwas leisten. Damit kann ich mich in einer Gruppe zeigen bzw. zu einer Gemeinschaft beitragen. (7 – 12 Jahre)

 

Agieren die Bezugspersonen in den ersten Jahren nicht förderlich (wie z. B. zu wenig Körperkontakt, nicht auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen, Bestrafung, Ignoranz/Liebesentzug als Strafe, Wegsperren, Helikopter-Eltern etc.)  oder gibt es äußere Umstände (wie z. B. Frühgeburt, Aufenthalt in einem Brutkasten ohne Körperkontakt, depressiver/psychisch kranker Elternteil, Unfall, Sturz vom Wickeltisch, Trennung der Eltern, Tod eines Elternteils usw.), gerät die Entwicklung ins Stocken oder bleibt sogar ganz stehen. Dann spricht man von der „Frühen oder auch ersten Position“. Dies bedeutet, dass man auch als Erwachsener auf oben Genanntes keinen Zugriff hat. Die Liste der Beispiele für nicht förderliches Verhalten oder hinderliche äußere Umstände ist schier unendlich und das Aufzählen würde den Rahmen dieses Artikels mehr als sprengen. Es ist aber wichtig zu wissen, dass ohne Ausnahme (!) jeder Mensch die ein oder andere nicht förderliche Erfahrung im Kindesalter gemacht hat. Es also „normal“, eine kleine oder große Störung mit sich herumzutragen. Der Bedarf, damit zu einem Coach zu gehen besteht meist erst, wenn der damit zusammenhängende Schmerz oder die Blockade (wie oben z. B „nicht vertrauen zu können“) für den Klienten nicht mehr händelbar ist oder sich im Unternehmensumfeld die Beschwerden bezüglich des Verhaltens immer mehr zunehmen.

 

Eine Entwicklungsstörung in der frühen Phase äußert sich dann im Erwachsenenalter z. B. wie folgt:

  • Ich kann meinen Körper und Emotionen nicht spüren. Oder anders gesagt: Ich habe keinen Kontakt zu mir.
  • Ich kann kein (Selbst-)Vertrauen aufbauen.
  • Ich kann meine Bedürfnisse nicht spüren.
  • Ich kann meine Impulse nicht wahrnehmen.
  • Ich habe keine Ahnung, was ich will.
  • Bin ich Mann oder Frau?
  • Ich habe keine (eigene) Meinung.
  • Ich habe keinen Zugriff auf meine Leistung und/oder Motivation. In einer Gruppe kann und will ich mich damit nicht zeigen.

Die erste Position braucht Unterstützung, ihre Ressourcen (wieder) zu finden und zum Leben zu erwecken.

 

  1. Späte Phase: Die Fähigkeit/Ressource findet ihren Ausdruck nach außen

Die in der frühen Phase entwickelte Fähigkeit wird in Kontakt gebracht.

Beispielhafte Aussagen eines Erwachsenen, an denen man erkennt, dass er in seiner Kindheit eine gesunde Entwicklung in der späten Phase durchlaufen hat:

  • Ich kann mich inklusive meiner Emotionen gut in Kontakt bringen.
  • Ich vertraue mir und anderen.
  • Ich kann meine Bedürfnisse gegenüber anderen Menschen äußern und für sie einstehen.
  • Ich kann darüber sprechen, was meine Impulse (Entscheidungen) in diversen Situationen sind und ihnen nachgehen.
  • Ich kann sagen, was ich will und mich dafür einsetzen.
  • Ich kann als Mann oder Frau gegenüber anderen auftreten/zeigen, dass ich ein Mann oder eine Frau bin.
  • Ich bin in der Lage, meine Meinung bei anderen Menschen zu äußern.
  • Ich kann mich mit meiner Leistung bei anderen Menschen oder in eine Gemeinschaft einbringen.

Bei Störungen in diesem Zeitraum, bleibt die Entwicklung hier stehen und man spricht deshalb von der „Späten oder auch zweiten Position“. Dies bedeutet, dass ich zwar Zugriff auf meine psychische Fähigkeit habe, sie aber zurückhalte, mich nicht traue, sie in Kontakt zu bringen oder darüber denke „Das macht man nicht!“, „Das darf ich nicht!“. Die frühkindliche Erfahrung, die dem zugrunde liegt, ist der Kontaktabbruch durch die erziehende Bezugsperson, sobald das Kind beispielsweise seine Bedürfnisse oder seinen Willen durchsetzen will. Mehr dazu, ob JEDES Bedürfnis erfüllt werden muss, findest du in meinem Buch.

 

Eine Entwicklungsstörung in der späten Phase äußert sich dann im Erwachsenenalter z. B. wie folgt:

  • Ich spüre mich inklusive meiner Emotionen, habe aber das Gefühl, den anderen nicht damit zu erreichen.
  • Ich spüre zwar meine Bedürfnisse, spreche sie aber gegenüber anderen Menschen nicht aus oder denke, das sei nicht so wichtig oder die Bedürfnisse der anderen Person seien wichtiger.
  • Ich spüre einen Impuls in mir, drücke ihn aber herunter oder halte ihn zurück.
  • Ich weiß, was ich will, aber äußere es nicht.
  • Ich begreife mich als Mann oder Frau, blende dies im Kontakt aber aus oder beziehe mich beim Gegenüber nicht darauf. Damit wird auch die Polarität ausgeblendet, aus der Anziehung entsteht.
  • Ich kenne meine Meinung, halte sie aber zurück.
  • Ich kann meine Leistung für mich alleine einschätzen, gegenüber anderen blende ich sie aus, mache mich kleiner oder scheue mich vor einem realistischen Vergleich. D. h. ich kann sie ohne Schamgefühl nicht zur Sprache bringen. (Hier verbirgt sich auch ein größeres gesellschaftliches Tabu-Thema, welches einen separaten Blog-Artikel wert ist). Wenn ich etwas leiste, dann tue ich das für mich, ohne meine Leistung in eine Gemeinschaft einzubringen.

Die zweite Position muss im therapeutischen Coaching nachträglich lernen, was ihr als Kind nicht erlaubt wurde: Nämlich, dass es in Ordnung ist, die Fähigkeiten im Kontakt zu zeigen.

Werden die frühe und späte Phase ohne einschneidende Störungen durchlaufen werden, entwickeln sich beide Positionen nacheinander gesund und ausbalanciert. Dann haben wir die entsprechenden psychischen Fähigkeiten als Ressource integriert, Zugriff darauf und verlieren sie nicht, wenn wir im Kontakt mit anderen Menschen sind.

 

Welche Dynamik liegt Entwicklungsstörungen zugrunde?

Hierüber wurden unzählige Bücher verfasst und es gibt jede Menge Forschungsergebnisse dazu. Ich versuche hier in diesem Blog dem Anspruch gerecht zu werden, so kompakt wie möglich und so ausführlich wie nötig darauf einzugehen, um dem Leser diesbezüglich ein praktisches Grundverständnis zu vermitteln. Eines meiner Lieblingsbücher, welches ich in dem Zusammenhang empfehlen kann ist von Dami Charf und heißt „Auch alte Wunden können heilen“. Es ist auch für psychologische Laien sehr gut verständlich geschrieben.

Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir zu 100% abhängig von unseren Bezugspersonen. Sofern diese sich nicht ausreichend um uns kümmern, sterben wir! So einfach wie einprägsam. Dies ist übrigens auch der Grund, warum sich die Störungen aus Kindertagen im Erwachsenenalter oft noch so anfühlen, als ginge es „um Leben oder Tod“.

Zwei grundlegende erste Bedürfnisse müssen wir betrachten, um den Zusammenhang einer Entwicklungsstörung zu verstehen:

 

Das Bedürfnis nach

 

Kontakt

 

und das Bedürfnis nach

 

Erhalt der Würde/Integrität.

 

Sie müssen weitestgehend erfüllt sein, um eine gesunde psychische Entwicklung zu durchlaufen! Sie rangieren gleich nach den basalen physischen Bedürfnissen wie essen, trinken, schlafen und Notdurft.

 

Zur Wahrung der Würde/Integrität eines Menschen gehört, dass er inklusive

  • seiner Daseinsberechtigung
  • seiner Bedürfnisse
  • seiner Autonomie
  • seinem freien Willen
  • seinem Geschlecht
  • seiner Meinung
  • seiner Leistung
  • seiner Stellung innerhalb einer Gruppe (Position, Rang, auch innerhalb einer Hierarchie)
  • und später auch seiner Werte

wahrgenommen wird oder anders gesagt, ihm dies (im Kontakt) zugestanden wird. Im frühen Kindesalter von seinen Bezugspersonen (Eltern, Verwandte, Lehrer). Als gesunder Erwachsener dann von sich selbst und seinem Umfeld.

In Unternehmen, die ich bezüglich Führung und Resilienz berate, wird in unterschiedlichen Zusammenhängen immer mal wieder der Wunsch nach „Respekt“ laut. Bzw. wird der Vorwurf formuliert: „Der andere behandelt mich nicht respektvoll!“ Daraufhin frage ich nach, was der Einzelne unter Respekt konkret versteht. In den meisten Fällen landen wir bei einem oder mehreren Punkten aus der Auflistung oben. Menschen wünschen sich, dass im Kontakt zu Chefs und Kollegen ihre Würde mit allen oben genannten Aspekten gewahrt bleibt. Die Aufschlüsselung des abstrakten Wortes Respekt hilft sehr oft dabei, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen und Feedback klarer formulieren zu können.

Die Voraussetzungen für psychisch gesunden Kontakt sind Wechselseitigkeit und Synchronisierung. Und zwar inhaltlich, emotional und energetisch (=körperlich auf der Ebene des autonomen Nervensystems). Plakativ gesprochen:  Auf ein „Ping“ sollte ein passendes „Pong“ im gleichen Rhythmus folgen. Was man tut oder sagt, sollte sich auf den anderen beziehen und daran anknüpfen, so dass eine tiefe, echte Verbindung entsteht. Im Sinne von:

 

Ich sehe, dass du mich siehst!

Ich höre, dass du mich hörst!

Ich spüre, dass du mich spürst!

 

In meinem Buch gehe ich noch ausführlicher darauf ein. Was in diesem Zusammenhang Taktlosigkeit wirklich bedeutet, wird dadurch ebenfalls greifbarer.

Als Babys und Kinder sind wir zu 100% auf Kontakt angewiesen. Wenn einem Kind seine Daseinsberechtigung, Bedürfnisse, Autonomie, sein Wille, sein Geschlecht, seine Meinung oder Leistung im Kontakt abgesprochen wird (und dies erfolgt durch die Bezugspersonen oft unbewusst), ist es gezwungen, seine Integrität oder anders gesagt „sich selbst“ aufzugeben, da sonst der Kontakt verloren geht. Dann entsteht eine Entwicklungsstörung.

Ein Kind und Heranwachsender stehen in diesem Fall also immer vor der entscheidenden Frage:

 

Würde oder Kontakt?

 

Oder anders gesagt:

 

Was gebe ich auf?

Mich und meine Integrität oder den Kontakt zu meiner Bezugsperson?

 

Die traurige Wahrheit ist: das kleine Kind hat keine andere Wahl. Um sein Überleben also den Kontakt zu sichern, MUSS es seine Integrität aufgeben! Es lernt also: den überlebenswichtigen Kontakt bekomme ich nur, wenn ich einen Teil von mir selbst, meine Bedürfnisse, Autonomie, Willen oder Meinung herunterdrücke.

 

Beispiele, die dazu führen könne, dass ein Kind sich selbst aufgibt, um den Kontakt zum Elternteil nicht zu verlieren:

  • Das Baby schreit (Bedürfnis nach Kontakt) und wird nicht getröstet oder etwas älter…
  • …das Kind stürzt und hat Schmerzen (Bedürfnis, getröstet zu werden). Vater sagt: „Ist doch nix passiert!“
  • Das Kind will etwas alleine machen z. B. essen, später Schnürsenkel binden, in die Schule laufen etc. (Autonomie/Selbstständigkeit/Wille entwickelt sich). Eltern greifen ein, nehmen es dem Kind ab.
  • Das Kind will spielen, anstatt die Hausaufgaben zu machen. Die Eltern belohnen es, wenn es seinen Willen aufgibt, oder bestrafen es, wenn es nicht folgen will.
  • Das Kind möchte seinen Willen durchsetzen und trotzt. Daraufhin wird es von den Eltern ins Zimmer gesperrt, bis es wieder „normal“ ist (also seinen Willen für den Kontakt aufgegeben hat).
  • Das Kind äußert seine Meinung über ein Thema und wird von den Eltern oder vom Lehrer zurechtgewiesen oder beschimpft. Der Wert, die Würde des Kindes wird an seiner Meinung festgemacht.
  • Die Leistung des Kindes (z. B. Schulnoten) wird schlecht gemacht oder mit der Leistung anderer Kinder verglichen, die besser abgeschnitten haben. „Mama ist traurig, weil du nicht gelernt hast!“
  • Der pubertäre, ggf. aggressive Abnabelungsprozess und Festigung der eigenen Persönlichkeit wird als rebellisch beschimpft und immer wieder auf Anpassung gedrängt.

Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich nicht propagiere, dem Kind ständig alles erfüllen zu müssen. Es geht um eine gesunde Balance und selbstverständlich auch das Erlernen einer angemessenen Frustrationstoleranz. Hier kann ich zum Vertiefen übrigens alle Bücher oder auch den Instagram-Kanal von Nicola Schmidt[2] empfehlen. Sie benutzt übrigens auch das Wort „artgerecht“ in Bezug auf Erziehung. Generell ist es für den kleinen und großen Menschen gesund (und dies ist bereits wissenschaftlich erforscht), wenn das Verhältnis von Erfüllung (=ja) zu Nicht-Erfüllung (=nein) in etwa bei 3: 1 liegt!

 

Für eine gesunde psychische Entwicklung ist also ein wechselseitiger Kontakt notwendig, der die Integrität des Menschen wahrt.

 

Und zwar auf allen acht Entwicklungsstufen!

 

Das ist menschliche = „artgerechte Führung“ sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter.

 

So gut wie alle Führungs- und Resilienzthemen oder -probleme lassen sich entwicklungspsychologisch betrachtet auf diese Systematik herunterbrechen. Das ist der Grund, warum ich dafür plädiere, sich auch im Unternehmenskontext einen Blick darauf zu erlauben.

Und das meine ich auch damit, wenn ich mich als „therapeutischer Coach und Berater“ bezeichne. Ein Coaching auf der Verhaltensebene, wie es von vielen Business-Coaches angeboten wird, kann wie oben bereits erläutert an Grenzen stoßen, wenn die Entwicklungsstörung aus der Kindheit entsprechend stark ins Erwachsenendasein strahlt.

 

Meine Herangehensweise

Mit dem Wissen über oben ausgeführten Punkte und natürlich meiner Erfahrung, liegt es mir am Herzen, oder noch besser gesagt, bleibt mir gar nichts anderes mehr übrig, als mich in meinen Trainings und Coachings an diesen Prinzipien zu orientieren und Berührungsängste auf Seiten der Kunden abzubauen. Da ich die grundsätzlichen Coachingtools immer für den Einstieg in ein Thema verwende, fällt es den Klienten in der Regel leicht, sich auch auf einen vertiefenden therapeutischen Prozess einzulassen. Und in 99% der Fälle spricht das Ergebnis für sich, was mich und meine Klienten bestärkt, genauso weiterzumachen.

Warum sollte man Methoden, die sich bereits im Zusammenhang mit schwerwiegenden psychischen Störungen (Depression, Sucht, Manien, Zwänge etc.) bewährt haben, nicht auch für Alltags- und Führungsthemen nutzen?

 

Was ich jeder Führungskraft empfehle: Psychoedukation

In meinen Augen ist es mehr als notwendig, dass sich (nicht nur) Führungskräfte partiell mit dem Thema Psychologie auseinandersetzen und Herausforderungen aus dem Führungsalltag durch diese Brille betrachten. Psychoedukation beschreibt die Wissensvermittlung von psychologische Zusammenhängen und Ausprägungen und wird von mir u.a. in meinen Führungstrainings vermittelt. So bekommt die Führungskraft einen übergeordneten, objektiven Blick auf Themen, die ohne dieses Wissen belastend und ausweglos erscheinen würden. Sowohl die Handlungs- als auch die Lösungskompetenz der Führungskraft nehmen dadurch zu.

 

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[1] https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/coaching

[2] https://www.medimops.de/nicola-schmidt-artgerecht-das-andere-babybuch-natuerliche-beduerfnisse-stillen-gesunde-entwicklung-foerdern-naturnah-erziehen-aktualisierte-und-erweiterte-neuausgabe-gebundene-ausgabe-M03466311691.html